Als im Herbst 2000 das 13. Heft der German Rock News mit dem Titel Rock'n East vorbereitet wurde, da ahnte keiner von uns, wie dicht wir trotz der scheinbar fernen Schauplätze am Puls deutscher Rockgeschichte lagen. Denn just in diesem Moment entstanden hierzulande die ersten Gruppen, die eine vor 20 Jahren in Japan begründete Stilistik in Mitteleuropa praktizieren: Visual Rock.

Rückblick: 1982 hoben Sänger Toshi und Drummer / Pianist Yoshiki (beide 1965 in Chiba geboren) die Metal-Band X aus der Taufe, die bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1997 für eine Revolution der fernöstlichen Musiklandschaft sorgen sollte.
Inspirationen bezogen sie dabei zunächst zwar hauptsächlich von US-Thrashbands und europäischen wie amerikanischen Hardrockgruppen, insbesondere dem schillernden Erscheinungsbild von Kiss, aber die japanisch variierten Vorlagen entwickelten schnell ein Eigenleben, das im Land der aufgehenden Sonne seit Ende der 80er Jahre zahlreiche Nachahmer fand.
Das Verschwinden von X Japan (wie sie seit 1992 hießen), der Begründer und erfolgreichsten visual kei Vertreter, hinterließ zwar eine empfindliche Lücke, doch ihre Nachfolger entwickelten das Erbe mit großer Vielfalt und nicht zuletzt auch viel Erfolg fort.

Klangvolle Namen wie Luna Sea, Malice Mizer, Dir En Grey, Due Le Quartz oder Pierrot bereicherten seither den Markt mit immer neuen Kombinationen aus Pop, Rock, Folk, Goth, Alternative, Core und Industrial sowie immer verrückteren Outfits.
Diese sogenannten J-Pop bzw. J-Rock Gruppen mit ihrer starken optischen Komponente bilden eine eigene Szene, die man unter dem Begriff visual rock bzw. visual kei (jap. f. Stil) einordnet, wobei für sehr viele Fans die Ausprägung des musikalischen Härtegrads tatsächlich weniger eine Rolle spielt als das subjektive Empfinden beim Hören der Musik und Betrachten der Fotografien. Die Grenzen zwischen Pop, Rock und Metal-Stilistiken sind im J-Rock sowieso wesentlich schwächer ausgeprägt als in westlichen Ländern.

Entsprechend japanischer Schönheitsideale betonen die überwiegend männlichen visual kei Musiker ihre femininen Züge, und das oft so sehr, dass dem unvorbereiteten Betrachter kein Unterschied zu echten Frauen auffällt. Grell gefärbte, zu auffälligen Frisuren gestylte Haare gehören zum Standard-Outfit, Schminke, farbige Kontaktlinsen, historisierende Kleider oder lac'n'leather zusammen mit speziell gefertigten Instrumenten runden das Bild ab.
Mit trans- oder homosexuellen Neigungen hat der dem europäischen Goth-Look noch am ehesten vergleichbare Kleidungskodex ursprünglich nichts zu tun. Es geht vielmehr ums Auffallen, Bestaunen, Anderssein, Schocken.

In Deutschland ist der Fall etwas anders gelagert. Aber hier entwickelt sich z.B. auch das Erscheinungsbild der vorwiegend weiblichen Fans zunehmend in eine Richtung, die von Wave/Gothic lediglich in Nuancen unterscheidbar ist.

Warum visual rock erst im 21.Jahrhundert verstärkt in Europa einsickert ist relativ leicht erklärt. Keine der stilprägenden Bands hat außerhalb Ostasiens einen Vertrag bekommen. So konnte ein gewisser Bekanntheitsgrad erst durch bessere Vernetzung der weltweiten Kommunikation erreicht werden. Grundvoraussetzungen hierfür waren größere Bandbreiten im Internet und das Komprimierungsformat mp3. Eine sehr wichtige Rolle spielte auch der Ende der 90er Jahre einsetzende Anime- und Manga-Boom, der das Interesse für japanische Kultur allgemein anhob.

Ab 2000 befinden sich einige Bandprojekte in Deutschland im Aufbau, die 2005 erstmals Demo-Stadium erreichen. Sie nennen sich Transmigration (später: Mysidia), Psychommunity, Alice On Speed, Zoe (jetzt Minor Complex) oder Sadistic Desire und ihre Probleme lesen sich oft ähnlich. Die zahlenmäßig zu diesem Zeitpunkt noch sehr kleine deutsche Szene besteht vorwiegend aus Schülern, Studenten und Auszubildenden, d.h. sehr jungen, finanzschwachen und damit auch weniger mobilen Menschen.

Kristallisationspunkt sind immer wieder Anime-Conventions. Man begegnet sich am Rande von Fantreffen und Fachmessen der Comic-Freaks. Dementsprechend setzten sich die Gruppen anfangs aus Leuten zusammen, die über die ganze Republik verstreut lebten. Das gemeinsame Proben bzw. Auftreten wurde so zum Hindernislauf, der eine schnelle Weiterentwicklung behinderte.
Trotz typisch deutscher Grüppchenbildung ist der Zusammenhalt recht groß. Die visual kei Anhänger treffen sich zum cosplay, dem kostümierten Nachahmen japanischer Idole, und tun dies beileibe nicht nur im Freundeskreis, sondern ebenso aus Anlass der Conventions oder Spaßes halber mitten in der Woche. Auch hierin unterscheiden sie sich von japanischen Fans, die üblicherweise nur am Wochenende und auf Konzerten aus ihrer Kleiderordnung ausbrechen.

Seit Oktober 2000 gibt es mit Visual Shock (in Anlehnung an das X Japan Motto "Psychedelic Violence, Crime of Visual Shock") einen deutschen visual kei Fanclub, der sogar ein eigenes Musikmagazin herausgibt (Visions Of Decadence).

Seit Anfang 2002 liefen konkrete Vorbereitungen zur Durchführung deutscher J-Rock Conventions, die jedoch noch keine Ergebnisse brachten. Dafür finden inzwischen in vielen größeren Städten, u.a. München, Augsburg, Hamburg und Berlin regelmäßig Discos und Visual-Treffen (ViT) statt.

Etwa ab 2003 wird spürbar, dass J-Rock-Fans (Leute, die japanische Rockmusik allgemein hören) sich zunehmend von "Visus", wie die visual kei Anhänger jetzt genannt werden, distanzieren. Vorgeblich ernsthafte Beschäftigung mit Kultur gegen angeblich modisch-oberflächliche Schwärmerei. Naja, es mag was dran sein, auch wenn es selbstverständlich zahllose Graustufen gibt.

2004 laufen während des Sommers zahlreiche Auftritte japanischer Acts in Germoney (Balzac, Blood, Electric Eel Shock, Eve of Destiny, Guitar Wolf) und es gibt im Netz immer mehr Infos in deutscher Sprache. Durch die Eröffnung einer europäischen Tochter des Labels Free Will (Dir en grey, Baroque, Kagerou, Miyavi, Kagrra u.a.) im September verbesserte sich die Versorgung mit "Stoff" nochmals deutlich.

In Zusammenarbeit mit der Community J-Music Europa und den NeoTokyo-Shops tauchen Jrock-Bands 2005 u.a. sogar in Wacken (Mucc) und Rock-Am-Ring / Rock-Im-Park (Dir en grey) auf, während sich die Mainstream-Presse - u.a. Bravo und Orkus - langsam für die Szene zu interessieren beginnt und Visual Garden (das zweite gedruckte Genremagazin) frei über die Theke geht.
Das erste deutsche J-Label Gan-Shin entsteht im August 2005. Es eröffnet den Vertrieb der Alben Mucc - Kuchiki no tou und Hyde - 666. Schnell nimmt es weitere Acts unter Vertrag: Dir en grey (deren erstes Konzert auf deutschem Boden innerhalb drei Tagen allein durch Mundpropaganda ausverkauft war), Moi dix Mois, Kagerou, D'espairsRay, Nightmare und diverse andere.

Vom Untergrund zum Kommerzfaktor in acht Jahren:
Bis 2006 interessiert sich auch das Fernsehen für den kuriosen Kult ums Visuelle, macht daraus jedoch erwartungsgemäß eine Freakshow. Es werden teilweise sehr schlecht recherchierte Reportagen veröffentlicht und vk-Elemente ins Unterhaltungsprogramm eingebaut.
Visual Garden schafft unter dem neuen Namen Cho² sowie mit professioneller Unterstützung den Sprung an die Kioske. Die erste Ausgabe erscheint im September 2006.

Ob man wegen der optischen wie akustischen Fremdartigkeit Skepsis zeigt oder sich von der Begeisterung der J-Rock- und visual kei Fans hinreißen lässt, bleibt natürlich jedem selbst überlassen.
Interessant aus Sicht des German Rock ist die Entwicklung allemal, besonders da wir sie von der Stunde ihrer Geburt an beobachten konnten, noch bevor sie in irgend einer Weise kommerzielle Aspekte erhielt.
[Jürgen Hornschuh]